Oft ist man stark aus schwäche und ... aus angst

Viele Patienten, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, leiden unter einer „Ich-Schwäche“. Das bedeutet, dass die sogenannten „Ich-Funktionen“ teilweise eingeschränkt sind. Zu den Ich-Funktionen gehört zum Beispiel die Steuerung der Affekte und das Wahrnehmen der inneren und äußeren Welt. Wer hier geschwächt ist, der kann nur schwer innere Spannungen aushalten. Das steuernde „Ich“ wird möglicherweise vom strengen „Über-Ich“ (z.B. von strengen moralischen Vorstellungen) und vom „Es“ (den „Trieben“) sozusagen eingequetscht. Eine besonders ausgeprägte Ich-Schwäche heißt „Ich-Defekt“.

Andere werden gebraucht

Oft braucht der Betroffene eine nahe Bezugsperson, auf die er sich stützen kann und die ihm ein Hilfs-Ich anbietet. Er steht unter einem enormen Druck. Affekte wie Wut, Enttäuschung oder Angst sind kaum auszuhalten und der Betroffene kann diesen Spannungen nur wenig entgegensetzen.

Von einer „strukturellen Ich-Schwäche“ spricht man, wenn die Struktur „Über-Ich-Es“ nicht ausgeglichen ist, sodass z.B. ein überstarkes Über-Ich das Ich mit seinen strengen Regeln erdrückt. Das Über-Ich kann auch zu schwach sein, sodass die Triebe sich austoben können. Das Ich kann auch durch Traumata geschhwächt sein, sodass das „Es“ durchbricht, obwohl ein starkes Über-Ich vorhanden ist.

Ich-Schwäche zeigt sich in kritischen Situationen

Die Ich-Schwäche bestimmt den Alltag der Betroffenen immer wieder, besonders wenn Situationen unübersichtlich und stressig werden oder wenn sie an Vergangenes erinnern, das nicht verarbeitet wurde. Dann ist planvolles und durchdachtes Handeln kaum möglich. Angst kann ebenso auftauchen wie die Schwierigkeit, sich selbst von anderen zu unterscheiden. Es entsteht dann manchmal das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Abgrenzung ist in diesen Momenten schwierig. In anderen Situationen, im ruhigen Fahrwasser, fühlen sich die Betroffenen dann wieder wohl und können auch – beispielsweise im Beruf – durchaus stark sein.

Stärkung durch Therapie

Bei einer Ich-Schwäche, die Leidensdruck hervorruft, hilft oft eine Psychoanalyse. In der Psychoanalyse lernt man, genau zu spüren, was man selbst fühlt und dies dann zu verbalisieren. Der Analytiker kann das selbst gut und wird zum Vorbild. Dieses Vorbild kann man als Analysand in seine eigene Psyche aufnehmen. Unverarbeitete Probleme können nachträglich neu bearbeitet werden. Man lernt sich selbst besser kennen – somit kann man sich auch selbst besser steuern.

Ichstörung in der Psychiatrie: Der Begriff „Ichstörung“ wird in der Psychiatrie so verwendet: Bei einer Ichstörung hat man Schwierigkeiten, sich selbst von der Umwelt abzugrenzen. Wer ist hier wütend? Ich oder der andere? Lösen sich meine Körpergrenzen auf? Die Umwelt sieht so komisch aus! Das sind typische Gedanken und Gefühle, die man bei einer Ichstörung haben kann. Daher zählen z.B. Derealisation und Depersonalisation zu einer „Ichstörung“.

„Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“ – ein Satz, den viele von uns bereits früh zu hören bekamen und der unsere Lebenseinstellung geprägt hat. Auch ich glaubte lange, dass Verletzlichkeit eine Schwäche sei. Glücklicherweise belehrte mich das Leben eines Besseren.

Als ich begann, meine Krankheitsgeschichte, meine Selbstzweifel sowie meine Verletzlichkeit nach außen zu tragen, bekam ich eine Fülle an wertvollen Feedback von Menschen, denen es ähnlich ging wie mir. Kein Wunder – wir sind schließlich alle verletzlich. Wieso also sollten wir das verbergen? Unsere Gefühle sind immer richtig. Sie sind ein Teil von uns, den wir nicht verleugnen sollten.

Unsere Gefühle sind immer richtig. Sie sind ein Teil von uns, den wir nicht verleugnen sollten.

Eine bewusste Entscheidung

Das Eingestehen meiner eigenen Verletzlichkeit führte dazu, dass ich ganz bewusst darauf achtete, meine negativen Gefühle weder zu unterdrücken noch zu verbergen. Ich sagte zu mir: „Ja, ich möchte verletzlich sein, auch wenn ich dabei das Risiko eingehe, enttäuscht oder abgelehnt zu werden. Ich entscheide mich ganz bewusst für dieses authentische Leben voller Höhen und Tiefen.“

Bild:Azamat Zhanisov /Unsplash

Was wir alles tun, um nicht verletzt zu werden

Obwohl sowohl körperliche als auch seelische Verletzlichkeit zu unserer Natur gehört, versuchen wir gerne, diese scheinbare Schwäche zu verbergen. Der Grund: Niemand von uns möchte verletzt werden. Schmerzen sind ja auch etwas Ungutes. Die Vermeidungsstrategie zeigt sich dann beispielsweise in folgenden Szenarien:

  • In Sachen Liebe warten wir darauf, dass der andere den ersten Schritt tut, damit wir ja keine Zurückweisung ertragen müssen.
  • Wir bitten selten um Hilfe, da dies ein Zugeständnis von Unzulänglich- und Verletzlichkeit wäre.
  • Wenn wir Zuspruch brauchen, sagen wir das nicht, weil wir wissen, ein Nein würde uns nicht nur unseren Stolz kosten, sondern uns auch verletzen.
  • Essenzielle Fragen im Leben schieben wir gerne auf, denn sie zu beantworten, das geht häufig damit einher, tief in unser Inneres zu blicken. Dorthin, wo auch vergangene Verletzungen verborgen liegen. Sich erneut mit ihnen zu befassen könnte schmerzhaft sein.
Bild: Toimetaja tõlkebüroo/Unsplash

Wir sind uns also einig: Verletzlich sein tut weh! Daher ist es wenig verwunderlich, dass wir danach streben, Situationen, in denen wir verletzt werden könnten, zu meiden.

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Aber genau diese Strategie ist häufig dafür verantwortlich, dass wir uns machtlos, ausgeliefert oder einfach leer fühlen. Während uns die Vermeidung Energie nimmt, kann Authentizität und „Selbstehrlichkeit“ Energie geben.

Wenn wir vermeiden, verletzt zu werden, fühlen wir uns häufig machtlos, ausgeliefert oder leer.

Warum es gut ist, verletzlich zu sein

  • Verletzlichkeit ist die Bereitschaft, aufrichtig zu sich selbst zu sein. Nur so ist es möglich, ein authentisches Leben zu führen.
  • Verletzlichkeit bedeutet, seine Sehnsüchte und Wünsche trotz der Angst vor Enttäuschung oder Kränkung zu verfolgen. Das Risiko, verletzt zu werden, einzugehen und im Gegenzug dazu die Chance auf Erfüllung im Leben zu erhalten.
  • Verletzlichkeit bringt Ehrlichkeit und Hingabe mit sich. Wer verletzlich ist, gewährt anderen einen Blick in sein Inneres. Nur so können tiefgreifende und ehrliche Beziehungen entstehen.
  • Verletzlichkeit bedeutet auch, seiner Kränkung Ausdruck zu verleihen. Den Schmerz also nicht in sich hineinzufressen. Durch das Ausleben der Gefühle kann der Schmerz entweichen und innere Blockaden können sich lösen.
Bild: BBH Singapore/Unsplash

3 Impulse, verletzlich, aber nicht schutzlos zu sein

  1. Ein gesundes Selbstwertgefühl: Jede Art von Verletzung oder Kränkung greift unseren Selbstwert an. Werden wir abgelehnt, so beginnen wir fast immer an unserem Wert zu zweifeln. Menschen, deren Selbstwertgefühl sehr stark ist, erholen sich von solch einem Rückschlag meist schnell. Oftmals hilft ihnen dabei die Metaebene, sprich die Betrachtung der schmerzhaften Situation von außen. Sie stellen dabei fest, dass die entstandene Kränkungen viel mehr mit der Situation desjenigen, der sie verletzt hat, als mit ihnen selbst zu tun hat. Diese Erkenntnis führt zu Erleichterung und ebnet den Weg zurück zur Selbstliebe.
  2. Das Gefühl will gelebt werden: Wie eingangs erläutert, führt das Verdrängen des Schmerzes zu inneren Blockaden. Diese begleiten uns nicht selten ein Leben lang. Obwohl die Verletzung dann bereits Jahre zurückliegt, werden wir die schmerzhafte Erinnerung einfach nicht los. Daher ist es ratsam, dass wir die Verletzung ausleben. Nur so kann die aufgestaute negative Energie entweichen. Eine weitere Möglichkeit, seiner Verletzung Raum zu geben, ist das Gespräch mit einer vertrauten Person. Nicht umsonst sagt man, geteiltes Leid ist halbes Leid.
  3. Verletzlich zu sein ist eine Stärke: Sich verletzlich zu zeigen ist ein Risiko. Aber wenn wir dieses Risiko nicht eingehen, dann bleiben uns viele wunderbare Chancen im Leben verwehrt. Derjenige, der sich einer Situation aussetzt, in der er verletzt werden könnte, zeigt Mut. Beispielsweise, wenn er einen Menschen seine Liebe gesteht oder wenn er anderen gegenüber eingesteht, dass er Hilfe braucht. Genau deshalb ist Verletzlichkeit eine Stärke, die uns manchmal zwar voller Wucht auf den Boden knallt, aber uns oftmals auch die glücklichsten Momente unseres Lebens beschert.

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