Abdi ich kann nicht mehr original video nicht zensiert

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Demonstration gegen das iranische Regime und gegen Putins Angriffskrieg in Köln: Ein neues, vernetztes Organisationsprinzip

Foto: P. Negro / aal.photo / IMAGO

In einem polnischen Grenzörtchen schlagen Raketen ein, es gibt Opfer, in sozialen Medien ist sofort die Rede von Bündnisfall. Nato! Artikel 5! Auf Twitter trendet »Weltkrieg«. Selbst die Aufrufe, um Gottes willen nicht in Panik zu verfallen, Ausrufezeichen, transportieren in typischer Social-Media-Aufgeregtheit ihr eigenes Gegenteil.

Am Ende handelt es sich offenbar um eine versehentlich in Polen eingeschlagene ukrainische Flugabwehrraketen, und natürlich gilt der Spruch »Nachher ist man immer klüger«. Aber das heißt eben auch »Vorher ist man immer unklüger«, was das viel gescholtene, eskalative Potenzial sozialer Medien beschreibt. Zusammen mit Fake-News-Lawinen, Social-Media-Propaganda, ungelösten Hass- und Hetzproblemen, der Real-Time-Soap-Opera, zu der Elon Musks tägliche Twitter-Show geworden ist, und dem ständigen, kulturpessimistischen und herablassenden Lamento über Influencer*innen haben soziale Medien gerade nicht unbedingt besonders gute Presse. Hatten sie lange nicht.

Im Dezember 2010 beginnt der Arabische Frühling, der zeitweise als »Facebook-Revolution« galt und damit im Westen als Einlösung des alten Versprechens, soziale Medien würden die Welt freier machen und dabei helfen, Diktaturen zu stürzen. Irgendwie.

Soziale Medien sind in Iran eine Frage von Leben und Überleben

Es ist leider nicht mehr in vielen Gedächtnissen vorhanden, aber schon über ein Jahr zuvor, im Sommer 2009, nutzte die iranische Bevölkerung vor allem Twitter, um den Widerstand gegen eine wahrscheinliche Wahlfälschung zu koordinieren. Drei Millionen  Menschen gingen auf die Straße, in deutschen Medien war damals die Rede vom »digitalen Aufstand« .

Es war kein Zufall, dass 2009 die vielleicht erste große, digital betriebene Revolte des Planeten in Iran stattfand. Soziale Medien sind für die jüngeren Generationen überall auf der Welt Teil ihres Alltags, ihrer Kommunikation, ihrer Kultur. In Iran aber bedeutet Social Media für die Jugend zugleich Leben und Überleben, und zwar buchstäblich.

Deshalb muss man, um die aktuelle Revolution in Iran besser zu verstehen, auch die Rolle sozialer Medien in Iran begreifen. So wird etwa beklagt , dass kaum führende Köpfe Teil der revoltierenden Bewegung seien – ein Nichtverständnis des Prinzips Netzwerk. Denn die Protestierenden sind durchaus organisiert. Es scheint auch eine gewisse (von außen schwer sichtbare) hierarchische Struktur zu geben. Aber eben auf eine Art, die digitalen Netzwerken nachempfunden ist.

Es gibt zwar Identifikationsfiguren, meist sind es Künstler*innen und Idole der Jugend. Sie haben aber keine oder nur eine multiplikatorische Funktion bei der Organisation. Man kann dieses neue, vernetzte Organisationsprinzip gut an einer der wichtigsten Menschenrechtsbewegungen der Gegenwart erkennen: #blacklivesmatter. Fast alle kennen diese Bewegung, sie ist politisch relevant und hat viel erreicht – aber selbst aufmerksamen Beobachtern fällt kein führender Name, kein einzelner Aktivistenkopf ein.

Tausende Demonstranten auf dem Weg zu einem Friedhof in der Heimatstadt der getöteten Mahsa Amini

Foto:

UGC IMAGE / AFP

Es zeugt deshalb von einem Unverständnis der vernetzten Gegenwart in Iran, den Mangel an mächtigen, organisierten und sichtbaren Gegenspielern des Regimes als Zeichen eines Scheiterns der Jugendrevolution zu begreifen. Leider heißt das im Umkehrschluss nicht, dass die Revolution zwingend erfolgreich sein wird. Aber es heißt, dass jede Form der politischen Unterstützung von außen essenziell ist, weil sich damit die Erfolgschancen erhöhen.

Telegram und Instagram als Medien des Protests

Twitter und Facebook sind in Iran seit 2009 großteils gesperrt. Zu den aktuell wichtigsten sozialen Medien gehören dort Instagram, WhatsApp und das viel gescholtene Telegram. Letzteres hat in Deutschland mit seiner weitgehend unregulierten, Behörden ignorierenden Art viel Schlimmes angerichtet. In Iran hat es aus genau diesen Gründen Vorteile.

Instagram hat mehrere essenzielle Funktionen bei den Protesten. Das liegt unter anderem daran, dass es das letzte große, nicht standardmäßig gesperrte Social Network in Iran war. Es gab aber bereits seit 2015 glaubhafte Hinweise , dass Instagram mit den Behörden des Iran teilweise zusammenarbeitet, was Zensur angeht. Und zwar eine intelligente Zensur des digitalen Arms der Revolutionsgarden. Im Westen wird leider noch immer die Radikalität und vor allem die boshafte Cleverness der Revolutionsgarden unterschätzt. Es handelt sich um eine staatliche, weltweit aktive Terrororganisation des iranischen Regimes, die samt der iranischen Führung, der Sittenpolizei und der Basij-Schlägertrupps härteste Sanktionen verdiente.

Der inzwischen unter Hausarrest stehende Journalist und Aktivist Abbas Abdi  sagt in einem Telegram-Posting : »Social Media ist die größte iranische Provinz.« Dafür gibt es neben der ohnehin in vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens riesigen Social-Media-Begeisterung einen konkreten und durchaus bitteren Grund: Im iranischen Alltag vor allem junger Frauen ist Instagram das Leben, der einzige Ort, an dem sie so etwas wie freie Entfaltung spüren können.

Natürlich passt auch das dem islamistisch-faschistoiden Regime nicht. 2018 wurde eine 17-jährige Influencerin wegen eines freudigen Tanzvideos auf Instagram verhaftet  und musste sich im Staatsfernsehen öffentlich entschuldigen. Singen und Tanzen ist Frauen in Iran gesetzlich verboten, das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, um den Extremismus, die Menschenfeindlichkeit und die Widerwärtigkeit des Regimes nicht aus den Augen zu verlieren.

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Genau die jungen Frauen, die jetzt die feministische Revolution des Iran vorantreiben, haben mit Instagram ein Fenster zur Welt. Sie sehen und spüren mit jedem Bild, jedem Video, jeder Story, was sie nicht haben dürfen, weil sie unter einem mörderischen, rassistischen, antisemitischen, islamistischen, in jeder Hinsicht lebensfeindlichen Regime leben.

Warum Influencer*innen für den Aufstand wichtig sind

Während Abiturientendeutschland wie selbstverständlich pauschal auf Influencer*innen herabschaut, zeichnet sich in Iran das ab, was auch schon in der Ukraine sichtbar war: Influencer*innen haben über Jahre auf der Grundlage ihrer persönlichen Interessen mithilfe sozialer Medien eine Infrastruktur der Aufmerksamkeit aufgebaut, die – wenn es drauf ankommt – auch für politische Kommunikation und Organisation genutzt werden kann. Und genau jetzt wird.

Seit Wochen demonstrieren Iraner gegen das Regime: Überragende Entschlossenheit und unglaubliches Durchhaltevermögen

Foto: AP

Der großartige Mut, die glühende Wut, die überragende Entschlossenheit, auch das unglaubliche Durchhaltevermögen dieser Protestgeneration basiert nicht nur darauf, dass die iranische Generation Z nichts zu verlieren hat. Sondern auch darauf, dass sie durch Instagram so genau weiß, was sie zu gewinnen hat. Was ihnen von alten, fundamentalistischen Männermörderbanden vorenthalten wird.

»Democracy dies in darkness«, Demokratie stirbt in der Dunkelheit, dieser Ausspruch der Reporterlegende Bob Woodward ist seit 2017 der Slogan der »Washington Post«. Seit 2019 ist es auch die Betriebsanleitung des iranischen Regimes: Protestierende werden in der Internet-Dunkelheit ermordet. Fast auf den Tag genau vor drei Jahren schaltete das iranische Regime das Internet ab. Und zwar mit einem unfassbaren Vorsatz. Innerhalb kürzester Zeit ermordete  das iranische Regime im Herbst 2019 über 1500 Menschen, die zuvor protestiert hatten. Wegen der Abschaltung des Netzes wurde das von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkt. Es gibt durch Leaks glaubhafte Gerüchte , dass auch jetzt eine Netzabschaltung geplant ist. Man muss das als Drohung mit dem Mord an vielen Tausend Aufständischen und deren Verwandten begreifen.

Und genau hier kommt der Westen ins Spiel, die Öffentlichkeit, die Politik und die Tech-Industrie. Die Netzverbindung der Protestierenden in Iran muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Wenn Publikum, Politik und Unternehmen zusammenarbeiten, kann das funktionieren.

Wie sich die Abschaltung des Internets verhindern lässt

Die Abschaltung oder Totalblockade des Internets in einem so großen Land wie Iran ist nicht trivial, unter anderem, weil die Infrastruktur der digitalen Vernetzung für die Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Gesellschaft gebraucht wird. Deshalb lassen sich mit den richtigen Kenntnissen und Technologien Internet-Schlupflöcher nutzen für die Verbindung der iranischen Protestbewegung mit der Welt. Die daraus folgenden Aufgaben für uns alle sind einfach zusammenzufassen:

  • Die Öffentlichkeit, gerade die deutsche Öffentlichkeit, muss den Druck auf die Politik und auf die Techkonzerne weiter erhöhen und dabei den Fokus auf den Informationsfluss aus Iran in den Rest der Welt legen – also die Aufrechterhaltung des Internets.

  • Die Politik in Deutschland und der EU muss sich umgehend mit den großen Techkonzernen beraten, mit Google, Apple, Meta/Facebook, Microsoft und anderen. Dort müssen Strategien eingefordert, gemeinsam erarbeitet und gegebenenfalls finanziert werden, die technisch alles möglich machen, um das Netz in Iran in Gang zu halten.

  • Die Techkonzerne haben dazu überraschend viele Möglichkeiten. Ganz vorn sind etwa VPNs (Virtual Private Networks), also Software, mit der man Netzblockaden umgehen kann. Google bietet mit Outline  bereits ein in Iran relevantes, kostenloses VPN an – aber viele andere VPNs sind kostenpflichtig, was einen guten Ansatzpunkt für die Politik darstellt, etwa durch Übernahme der Kosten. Auch sogenanntes Domain Fronting könnte von den großen Techkonzernen offensiver verwendet werden, um die iranische Öffentlichkeit durch Vernetzung und Erreichbarkeit der sozialen Medien zu schützen. Leider passiert das bisher offenbar nicht  – was Menschenleben kosten kann.

Die Zögerlichkeit der Techkonzerne resultiert natürlich daraus, dass Unternehmen sich nicht besonders wohlfühlen in aktivistischen Zusammenhängen, die gegen Regierungen gerichtet sind. Auch hier können und müssen Politik und Öffentlichkeit gemeinsam den Druck auf die großen Digitalunternehmen erhöhen.

Liefert der iranischen Bevölkerung Internettechnologie wie der Ukraine Waffen! Es gibt Möglichkeiten, die Menschen in Iran nicht in der digitalen Dunkelheit sterben zu lassen. Lasst sie uns nutzen – haltet Iran online, rettet das Leben Abertausender Iraner*innen!

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