Hat die Spanische Grippe den Ersten Weltkrieg beendet?

Verletzte brauchen Rekonvaleszenz, am besten in einer ruhigen Umgebung. Doch manchmal verbreitet sich auf diese Weise erst eine tödliche Gefahr. Anfang Juni 1918 erhielt Charlotte Herder, die Gattin des Freiburger Verlegers Hermann Herder, eine Mitteilung: Ihr im großen Verlagsgebäude untergebrachtes Lazarett müsse erweitert werden und komme deshalb unter militärische Verwaltung.

Doch die selbstbewusste Charlotte weigerte sich, die Verantwortung für das Lazarett abzugeben. Mithilfe ihres Mannes setzte sie sich durch, musste aber zugestehen, dass in einem ungenutzten Flügel des Gebäudes ein weiteres Krankenquartier eingerichtet wurde, in Zuständigkeit des Heeres. Unter den hier eingelieferten Soldaten von der Westfront befanden sich viele an einer unbekannten Infektion erkrankte junge Männer.

Feldpostbriefe waren der wichtigste Austausch zwischen Front und Heimat

Quelle: picture alliance / arkivi

Nicht nur in Freiburg, sondern auch in weiteren deutschen Städten registrierten Ärzte im Frühsommer 1918 eine unerwartete Welle von Patienten mit hohem Fieber sowie heftigen Kopf- und Gliederschmerzen – Symptome wie bei einer normalen Grippe, nur deutlich stärker. Woher kam die Krankheit, die weitaus öfter zum Tode führte als die üblichen Infektionswellen?

Ein Münchner Chefarzt berichtete über den Ausbruch im Einzugsgebiet seines Krankenhauses in Schwabing: „Innerhalb von etwa zehn Tagen kamen 77 Grippekranke zur Beobachtung, und ihre Mortalität war erschreckend hoch. Sie betrug 24, und bemerkenswerterweise traf das traurige Schicksal zumeist jüngere, kräftige Individuen.“ Verstehen konnte der Mediziner das nicht: „Warum die älteren Leute von dieser schweren Infektion größtenteils verschont blieben, ist nicht genau klar.“

Alliierte Soldaten im Gefangenenlager Haus Spital in Münster

Quelle: picture alliance / arkivi

Von den Krankenhäusern aus verbreitete sich die Infektion weiter: „Ein paar Hundert Pflegerinnen fielen jeden Tag allein in den Münchner Lazaretten aus und sollten ersetzt werden“, notierte der Publizist Karl Alexander von Müller rückblickend. Die Auswirkungen waren sofort spürbar. „Der Straßenbahnverkehr wurde eingeschränkt, in den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet.“ Düster dachte der selbst erkrankte Müller: „Es war der erste apokalyptische Reiter – wer wusste, ob nicht die anderen im fahlen Abendrot ihre Rosse zäumten?“

In der Reichshauptstadt kam die Infektion Mitte Juni an und verbreitete sich schnell: „Die Grippe in Berlin“, konstatierte die Künstlerin Käthe Kollwitz, deren Ehemann in seiner Praxis im Bezirk Prenzlauer Berg auf einmal viele zusätzliche Patienten behandeln musste: „Am Dienstag hat Karl hundert Grippekranke. Er selbst wird krank am Mittwoch.“

Doch zur Erleichterung von Käthe Kollwitz war der Verlauf der Krankheit bei ihrem Mann leicht. Offenbar Glück, denn die Sterblichkeit bei Infizierten lag mit Werten zwischen einem Zehntel und einem Drittel extrem hoch.

Grippestation im Camp Funston der US Army in Kansas. In diesem Lager wurde einer der ersten Ausbrüche der Spanischen Grippe diagnostiziert Quelle: picture alliance / National Muse

Quelle: Picture Alliance

Wie war die Grippe nach Deutschland gekommen? Und woher kam die Infektion überhaupt? Neuesten medizinhistorischen Forschungen zufolge hatte sie irgendwo im Mittleren Westen der USA begonnen. Dort waren im Winter 1917/18 mutierte Viren vom Typ A/H1N1 von Schweinen auf Menschen übergesprungen. In den improvisierten Mobilisierungslagern der US-Armee in Kansas fand der Erreger ideale Bedingungen für die Verbreitung: Zehntausende vom ungewohnten Drill erschöpfte Männer auf engem Raum bei ungenügenden hygienischen Bedingungen.

Erst im Jahr 2005 konnten Wissenschaftler das Phänomen klären, dass vor allem junge Menschen dem Virus zum Opfer fielen. A/H1N1 war in der Lage, im ersten Ansturm die Immunantwort der Infizierten zu unterdrücken. Als ihr intaktes Immunsystem schließlich zum Gegenschlag ausholte, geriet dieser so heftig, dass er das Lungensystem angriff. Das bereitete einer bakteriellen Lungenentzündung den Weg, die den entkräfteten Körper überwältigte und häufig zum Tod führte.

Aus Spanien kamen die ersten Nachrichten

Anfang März 1918 hatten US-Militärärzte die ersten ungewöhnlich schweren Krankheitsfälle registriert. Doch die Warnung kam zu spät: Drei Wochen später war der Virus mit US-Truppentransporten in Frankreich eingetroffen, in der Bretagne. Von hier aus breitete er sich gleichzeitig in alle Himmelsrichtungen aus – nach Paris und weiter nach Südfrankreich, über den Kanal nach Großbritannien, und natürlich zu den Fronten in Westbelgien und Ostfrankreich.

Nach Spanien drang die unbekannte Seuche ebenfalls vor. Weil die Zeitungen des im Weltkrieg neutralen Landes vergleichsweise frei berichten konnten, kamen von hier aus die ersten Nachrichten über die rätselhafte Krankheit nach Deutschland. Rasch nannte man die Infektion nur noch die Spanische Grippe.

Der Virus der Spanischen Grippe von 1918

Quelle: picture alliance / -/Centers for

Im März 1918 dazu hatten deutsche Truppen in ihrer Frühjahrsoffensive erhebliche Geländegewinne an der Westfront gemacht. Dabei waren ihnen viele britische, französische und amerikanische Soldaten in Gefangenschaft geraten, die bereits infiziert waren. Von ihnen sprangen die Erreger zuerst auf die meist älteren Wachsoldaten der Gefangenenlager über, die nicht so schwer erkrankten, wenn sie schon einmal einen anderen Grippeerreger überstanden hatten.

Bald grassierte die Seuche auch unter den deutschen Frontsoldaten, die sich binnen weniger Wochen zu Hunderttausenden krankmelden mussten. Schätzungen gehen von bis zu 500.000 Infizierten aus. Als die Kranken ab Anfang Juni massenhaft zur Erholung in die Heimat verlegt wurden, brachten sie die Erreger mit nach Deutschland.

Hier traf die Infektion auf eine Bevölkerung, die gerade gerade einen heftigen Stimmungsumschwung erlebt hatte: Die illusionäre Euphorie des Frühlings wurde von einer tiefen Depression nach dem Scheitern der Offensive im Westen abgelöst. Sie wurde durch die unerwarteten gesundheitlichen Risiken noch verschärft.

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In der „Weltbühne“ veröffentliche Kurt Tucholsky ein Gedicht über die „Spanische Krankheit“, das mit den Reimen schloss: „Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phtisis – das ist eine deutsche politische Krisis.“ Das war durchaus richtig beobachtet.

Sogar die Berliner Polizei, die sonst jede Stimmungsschwankung der Bevölkerung genau zu registrieren und mutmaßliche Gründe zu benennen versuchte, stand ratlos vor der Krankheit. Dafür konnte man weder die revolutionär gestimmte sozialistische USPD verantwortlich machen noch andere Radikale.

Kaum jemand glaubte ernsthaft, dass es sich um vorsätzlich vom Feind verbreitete Krankheitserreger handeln könnte. Angesichts der Nachrichten aus den Feindstaaten, die Deutschland über Spanien oder die gleichfalls neutralen skandinavischen Länder erreichten, war das absurd.

In den Krankenhäusern spielten sich unbeschreibliche Szenen ab

Quelle: Quelle: picture-alliance / Leemage

Ende Juni und im Juli 1918 erreichte die Grippewelle ihren ersten Höhepunkt. Vor allem unter der ausgehungerten, massiv unterversorgten deutschen Zivilbevölkerung forderte der Erreger viele Tote. Wie viele genau, weiß niemand: In diesem Früh- und Hochsommer hatten die Ärzte andere Sorgen, als Statistiken zu führen. Auch war kaum zu unterscheiden, ob Menschen an den Folgen von Unterernährung oder der Krankheit starben. Rund 600.000 Grippetote können es nach vorsichtigen Schätzungen 1918 allein im Deutschen Reich gewesen sein.

Inzwischen kommen Hochrechnungen auf fast 50 Millionen Tote, die die Pandemie zwischen 1918 und 1920 weltweit forderte. 17 Millionen sollen es allein auf dem indischen Subkontinent und im zerfallenden russischen Imperium gewesen sein, wo die Grippe allerdings nicht allein als Todesbringer auftrat.

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