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Fünf Sänger (drei Tenöre, ein Bariton, ein Bass), die sich von einem Pianisten unterstützen ließen, bildeten von 1927-35 ein Gesangsensemble, das den deutschen Schlager zu einer gesellschaftlich wie staatlich anerkannten Kunstform erhob, die in Musentempeln wie der Berliner Philharmonie zelebriert wurde und für die (ab 1932) keine Vergnügungssteuer mehr erhoben wurde. Das Sextett geriet auf dem Höhepunkt seines inzwischen auch internationalen Ruhms in die Schusslinie der nationalsozialistischen Rassenpolitik und wurde Anfang 1935 durch ein Auftrittsverbot gezwungen sich aufzulösen. Die drei ,arischen‘ Mitglieder der Comedian Harmonists verblieben im Reich und gründeten die Nachfolgegruppierung ,Meistersextett‘, der allerdings keine Harmonie ihrer Mitglieder vergönnt sein sollte und die 1941 von der Reichsmusikkammer verboten wurde. Die sog. ,nicht-arischen‘ Mitglieder, darunter auch der Gründer Harry Frommermann, emigrierten zunächst nach Wien, von wo aus sie mit neuen Kollegen einige erfolgreiche Welttourneen absolvierten, bis die Gruppe – ebenfalls 1941 – zerfiel. Die Neugründung einer Nachfolgetruppe 1948 in den USA überlebte nur einige Monate.
Zu den größten und – auch dank zahlreicher Cover-Versionen – unvergessenen Erfolgen der Comedian Harmonists zählt ihr Lied vom Kleinen grünen Kaktus. Es wurde im November 1934 aufgenommen und fällt damit bereits in die tragische Endphase der Formation, die sich damals auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens befand, über ein breites Repertoire und einen eigenen, auf Wohlklang und Präzision ausgerichteten Gesangsstil verfügte. So bekannt und beliebt dieser Schlager bei einem breiten Publikum ist, so wenig wird er nach meinen Beobachtungen verstanden. Weder repräsentiert er einen dadaistischen Nonsens-Schlager im Stil der ,goldenen‘ 1920er Jahre à la Mein Papagei frißt keine harten Eier noch transportiert er subversive Bekenntnisse zu Berliner Modedrogen. Statt dessen leistet er vermittels einer dezenten Satire auf erotische Sprödigkeit eine kleine Ermunterung zum Flirt.
Das lyrische Ich ist als weiblich zu denken und entspricht – so ungefähr! – dem im Kulturschaffen der Zeit weit verbreiteten Typus der ,Neuen Frau‘. Diese lebt selbständig in einem eigenen Revier (Wohnung mit kleinem Balkon), urteilt salopp („hollari, hollaro!“) und unabhängig über zeitgenössische Gepflogenheiten (vgl. Strophe 1) und gibt sich betont wehrhaft („dann hol‘ ich meinen Kaktus und der sticht, sticht, sticht“). Dass das botanische Waffenarsenal der Sprecherin nicht jedem Angst einjagen muss, versteht sich und wird sich im Fortgang der Geschichte auch noch praktisch erweisen.
Strophe drei lädt dazu ein, den kleinen Kaktus allegorisch zu deuten. Dem Ich ist der gedankliche Schluss von der Lieblingsblume einer Frau zu deren Charakter als alltagspsychologische Erkennungsstrategie geläufig, allerdings schreckt es vor der Anwendung auf den eigenen Fall zurück: Das Ergebnis wäre wenig schmeichelhaft. Die Hörer des Schlagers dürfen weniger skrupulös sein; sie haben das nur vordergründig so selbstbewusst auftrumpfende Fräulein und seine sexuellen Ängste schnell durchschaut, das seinen ,Balkon‘, seine ,Auslage‘ (Romeo und Julia lassen grüßen, evtl. auch die Dirndl-Branche) nicht mit roten Erotiksymbolen, sondern einem froschigen Stachelteil dekoriert.
Nun ist aber nicht zu vergessen, dass der Kaktus ,klein‘ ist, putzig und – im hohen Gesang der Comedian Harmonists schon beinahe ,süß‘. So scheint die Fügung der weiteren Geschichte zwar durchaus paradox, aber dann auch nicht völlig abwegig, dass ausgerechnet dieses Symbol begrenzter Wehrhaftigkeit zu einer Art Postillon d’Amour wird, indem es – aus eigenem Antrieb, von schicksalsträchtiger Luftströmung bewegt oder gar von seiner Eignerin geschubst? –, dem Naturgesetz der Gravitation folgend, den Weg zum netten Nachbarn Krause vom Nachbarhause im Tiefflug überbrückt und diesen im Gegenzug hinaus zur Balkon- und Kaktusbesitzerin führt. Der gute Krause, vom kleinen Kaktus gezeichnet, fordert sie auf, ihr ,gefährliches‘ Grünzeug künftig woanders aufzubewahren, sprich: sich ihrer sozialen Umgebung weniger kratzbürstig zu präsentieren. Ich denke, sie wird seinen Rat beherzigen.
Durch neuere Interpretationen (etwa von Max Raabe oder in Joseph Vilsmaiers Spielfilm Comedian Harmonists von 1997) ist der klassische Schlager vom kleinen grünen Kaktus auch dem gegenwärtigen Publikum bestens vertraut.
Hans-Peter Ecker, Bamberg