Wer nicht hüpft der ist ein jude

Beim Heimspiel am Sonntag gegen West Ham United werden sie wieder zu hören sein: Die Gesänge, die der englische Fußballverband aus dem Stadion von Tottenham Hotspur verbannen möchte. "Yid Army!", rufen die Fans an der White Hart Lane im Londoner Norden. Dem Verband teilten sie mit, dass sie sich nicht vorschreiben lassen, mit welchen Gesängen sie ihr Team zu unterstützen haben - beziehungsweise: mit welchen nicht. "We sing what we want!", klang es zuletzt gegen Chelsea im Chor durch das Stadion.

Der Verband hatte Anfang September eine Warnung an Tottenhams Fans herausgegeben, wonach der Gebrauch des Begriffes "Yid" künftig als Straftat ausgelegt und mit Stadionverboten geahndet werden könne, da er eine Beleidigung gegen Juden darstelle. Die Fans sollten bitte auf den Ausdruck verzichten. Doch das Anliegen des Verbands hat kein Gehör gefunden, wie sich gegen Chelsea zeigte.

Denn erstens lassen sich traditionelle Bräuche in Fankurven schwer verbieten. Und zweitens verweisen Tottenhams Anhänger darauf, dass man ihre Gesänge nicht als Antisemitismus verstehen solle - im Gegenteil. "Wir singen das mit Stolz, als Zeichen unserer Identität", sagt James Mariner, seit zehn Jahren Dauerkartenbesitzer an der White Hart Lane.

Tatsächlich pflegen Tottenhams Fans eine jüdische Identität. Die Flagge Israels gehört zum gewohnten Bild auf den Rängen. Das gleiche Phänomen ist beim niederländischen Rekordmeister Ajax Amsterdam zu besichtigen. Die Fans bezeichnen sich und ihren Verein als "Superjuden", und sie singen zum Beispiel: "Wer nicht hüpft, der ist kein Jude." Einige Fans haben den Davidstern tätowiert.

Amsterdam das "Jerusalem des Westens"

Dabei sind die "Spurs" und Ajax keine jüdischen Clubs. Auch die Anzahl jüdischer Fans ist bei beiden Vereinen nicht überdurchschnittlich hoch. Woher kommt dann die jüdische Symbolik?

Im Fall von Ajax hat das Image als jüdischer Club damit zu tun, dass Amsterdam vor dem Zweiten Weltkrieg als "Jerusalem des Westens" galt. Rund 80.000 Juden sollen damals in der Stadt gelebt haben, viele tatsächlich Ajax-Fans. Das Stadion De Meer, in dem Ajax bis zum Bau der modernen Arena in den neunziger Jahren seine Heimspiele austrug, lag im Osten der Stadt, wo ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Amsterdams lebte.

"Wenn Ajax gegen Teams aus eher provinziellen Regionen spielte, mussten die Gästefans vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn zum Stadion fahren. Sie fuhren durch das jüdische Viertel. So sahen viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben Juden", sagt Hans Knoop, jüdischer Journalist und Sprecher einer Stiftung, die sich gegen Antisemitismus im niederländischen Fußball engagiert, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

Hooligan-Gruppe griff jüdisches Image auf

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Ajax Symbolfiguren, die Juden waren: Präsident Jaap van Prag, dessen Sohn Michael, Uri Coronel, auch er Präsident. In den großen Ajax-Mannschaften Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre spielten mit Bennie Muller und Sjaak Swaart zwei Juden. Außerdem war der bei Fans und Spielern gleichermaßen beliebte Masseur Salo Muller Jude.

In den Siebzigern und danach sah sich Ajax in der heimischen Liga immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Um sich gegen die Parolen zu wehren, nahm die 1976 gegründete Hooligan-Gruppe F-Side das jüdische Image demonstrativ auf. Die Gruppe ist heute noch aktiv. Um Solidarität mit Israel und dem Judentum handelt es sich laut Stiftungssprecher Knoop dabei aber nicht: "90 Prozent der Ajax-Fans wissen gar nicht, wo Israel liegt. Wenn sie 'Juden! Juden!' oder 'Superjuden!' rufen, geht es ihnen darum, ihr Team anzufeuern - um nichts anderes."

Gegnerische Fangruppen reagieren mit neuem Antisemitismus auf die jüdische Identität der Ajax-Fans. "Hamas! Hamas! Juden ins Gas", rufen die Anhänger von Feyenoord Rotterdam regelmäßig bei Spielen gegen Ajax. Lex Immers von Ado Den Haag wurde 2011 für fünf Spiele gesperrt, weil er nach einem Sieg gegen Ajax einen bei den Fans seines Clubs beliebten Song angestimmt hatte: "Wir gehen auf Judenjagd!" Knoop sagt: "Die gegnerischen Fans sind nicht unbedingt antisemitisch eingestellt, aber sie sind gegen Ajax. Und wenn Ajax die Juden sind, dann müssen sie eben gegen die Juden sein."

Die "Spurs" waren bei jüdischen Einwanderern beliebt

Tottenham Hotspur wird aus ähnlichen Gründen mit dem Judentum verbunden wie Ajax. Der Club aus dem Norden Londons war bei den jüdischen Einwanderern beliebt, die sich im späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Londoner East End niederließen. "Die Spurs waren damals glamouröser als das näher gelegene West Ham United und als Arsenal", sagt Anthony Clavane SPIEGEL ONLINE. Der jüdische Journalist des "Daily Mirror" hat gerade ein Buch veröffentlicht, das sich mit jüdischen Einflüssen im englischen Fußball befasst. Auch in Nord-Londoner Stadtteilen wie Barnet, Hackney und Harrow leben traditionell viele Juden. So erlangte Tottenham Hotspur das entsprechende Image.

Wie die Fans von Ajax wurden Tottenhams Anhänger in den siebziger und achtziger Jahren antisemitisch beleidigt. Damals hatte der englische Fußball ein massives Gewalt- und Rassismusproblem. Zu ihrer Verteidigung machten sich Tottenhams Fans die Beleidigungen zu eigen. Seitdem nennen sie sich "Yid Army" - und sehen sich ebenfalls antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Gegnerische Fans imitieren gegen Tottenham manchmal Zisch-Geräusche von Gaskammern. Im November wurden Anhänger aus London vor einem Europa-League-Spiel in Rom von faschistischen Lazio-Fans überfallen.

Buchautor Clavane hofft, dass Tottenhams Fans künftig auf ihre Gesänge verzichten. Vor allem mit dem "Y-Wort", wie er nur sagt, hat er Probleme. Denn der Ausdruck "Yid" gilt als diskriminierend. Er wurde in den Dreißigern durch die Partei des Faschisten Oswald Mosley geprägt.

Darin liegt der Hauptunterschied der jüdischen Symbolik bei Ajax und Tottenham: Während die Amsterdamer Fans sich und ihren Club als "Juden" und "Superjuden" bezeichnen, verwenden Tottenhams Anhänger einen diffamierenden Begriff, der mit dem Ende der Rassismus-Problematik in England eigentlich aus den Stadien der Premier League verschwunden war. "Die meisten Leute wissen, dass wir das als reinen Spaß meinen. Wir wollen niemanden beleidigen", sagt Dauerkarten-Inhaber James Mariner.

Nach Ansicht von Anthony Clavane macht das die Sache nicht besser: "Sollte es erlaubt sein, Lieder zu singen, in denen ein Wort vorkommt, das eine Minderheit beleidigt?", fragt er. Es ist eine rhetorische Frage.