Ist Gähnen nur bei Sympathie ansteckend?

Ein Alltagsphänomen gibt Forschern Rätsel auf: Schon seit der Antike wird darüber spekuliert, welchen Zweck das Gähnen erfüllt. Die Suche nach Sinn und Funktion führt mitunter zu bizarren Befunden.

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Jeder kennt es, jeder macht es – durchschnittlich an die zehn Mal pro Tag: gähnen. Sogar Föten im Mutterleib sollen es schon tun. Außer Menschen gähnen auch Affen und Hunde. Und andere Wirbeltiere, etwa Fische oder Vögel, machen zumindest gähn-ähnliche Bewegungen. Aber trotz der weiten Verbreitung im Tierreich gibt der aufgerissene Mund Forschern Rätsel auf.

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Welche Funktion das mit einem tiefen Luftholen verbundene Mundaufreißen hat, weiß bisher niemand. Auch scheint das Gähnen jede Menge Auslöser zu haben: Müdigkeit, Langeweile, Sympathie und Stress – mitunter könnte es sogar mit sexueller Erregung zu tun haben.

Die Gähnforschung – im Fachjargon Chasmologie genannt – beschäftigt Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, darunter Hirnforscher, Psychologen, Biologen oder Mediziner. Zu Letzteren zählt Adrian Guggisberg von der Universitätsklinik Genf. “Eine der ältesten Hypothesen besagt, dass das Gähnen den Sauerstoffgehalt im Körper erhöhe, also eine alternative Form des Atmens sei”, erzählt der Neurologe. “Das wurde schon von Hippokrates vorgeschlagen.”

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Doch die von dem griechischen Arzt angeregte Sauerstoff-Theorie entpuppte sich als Aberglaube. Das zeigte spätestens im Jahr 1987 ein Experiment des US-Neuropsychologen Robert Provine von der University of Maryland.

Der Pionier der Gähnforschung ließ Probanden Luft mit einer erhöhten Konzentration von Kohlendioxid atmen. Resultat: Die Teilnehmer atmeten zwar schneller, aber sie gähnten nicht häufiger. Ähnliches gilt für das Joggen. Ein Läufer japst nach Luft. Aber er gähnt nicht, um mehr Sauerstoff zu bekommen.

Gähnen macht nicht munter

Richtig ist: Gähnen ist oft ein Zeichen von Müdigkeit. Besonders oft gähnen wir morgens nach dem Aufstehen, zur Mittagszeit und abends vor dem Schlafengehen. Aber warum? Macht uns das munter?

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Auf der Suche nach der Antwort setzte Guggisberg Versuchspersonen in eine dunkle Kammer. Dort mussten sie viermal am Tag jeweils 40 Minuten verbringen – ohne Beschäftigung. Dabei zeichnete der Forscher ihre Hirnströme auf.

“Die Leute waren gelangweilt und zum Teil auch noch müde”, erzählt Guggisberg. Bevor sie gähnten, zeigte ihre Hirnstromkurve tatsächlich mehr Zeichen von Schläfrigkeit als üblich. Das blieb allerdings auch nach dem Gähnen so.

Ähnliches ergab ein Versuch zur Langeweile mit einem eintönigen Film aus farbigen Vierecken. Gähnen hat keinen wachmachenden Effekt, folgert der Mediziner.

Gähnen steckt an

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Stattdessen könnte es ein soziales Phänomen sein. Zumindest weisen Indizien darauf hin. Ein Beleg ist die ansteckende Wirkung des Gähnens, also das unbewusste Nachahmen. Ausschlaggebend dafür ist offenbar emotionale Nähe, wie Forscher der Universität Pisa in Italien ermittelten.

Elisabetta Palagi und Ivan Norscia beobachteten 109 Erwachsene ein Jahr lang in ihrem gewohnten Umfeld. Ihr Résumé: Je näher uns ein Mensch steht, desto eher lassen wir uns von seinem Gähnen anstecken. Familienmitglieder und Freunde bewegen uns häufiger zum Mitgähnen. Bekannte und Fremde rühren uns dagegen seltener.

Auch Tiere ahmen Gähnen nach – zum Beispiel Schimpansen. US-Forscher um Matthew Campbell zeigten den Affen Videoclips, in denen Artgenossen gähnten. Resultat: Beobachteten die Schimpansen ein Mitglied ihrer eigenen Gruppe beim Gähnen, machten sie es ihnen um 50 Prozent häufiger nach als bei fremden Tieren. Gähnen sei ähnlich ansteckend wie Lächeln, Stirnrunzeln oder andere Gesichtsausdrücke, folgern die Forscher der Emory University in Atlanta.

Sogar zwischen verschiedenen Arten kann Gähnen ansteckend sein, wie ein Versuch mit Menschen und Hunden zeigte. Darin gähnte ein Wissenschaftler entweder lautstark oder er öffnete einfach nur den Mund. Die Hunde erkannten den Unterschied zuverlässig: Im ersten Fall gähnten 72 Prozent von ihnen mit, im zweiten Fall reagierte kein einziger.

Party-Trick mit Gähnen

Des Rätsels Lösung heißt Empathie: Ansteckendes Gähnen erfordert die Fähigkeit, Gefühlsregungen Anderer zu erkennen und darauf zu reagieren. Bei Kindern unter vier Jahren ist das Einfühlungsvermögen vermutlich noch nicht ausgeprägt. Das führe dazu, dass die Kleinen nicht mitgähnen, folgerte ein weiteres Forscherteam aus den USA. Und: Autistische Kinder lassen sich auch dann nicht zum Gähnen animieren, wenn sie älter sind.

Das ansteckende Gähnen lässt sich durchaus gezielt für eigene Zwecke nutzen, wie Wolter Seuntjens berichtet. Der Psychologe promovierte über den Zusammenhang von Gähnen und Erotik. “Es gibt diesen Party-Trick: Man geht in einen Raum von Unbekannten und gähnt verstohlen”, erzählt Seuntjens.

Wer sich von dem Gähnen anstecken lasse, entlarve sich als mehr oder weniger bewusster Beobachter und zeige Interesse. “Diese Empathie gegenüber einem Fremden lässt sich erotisch auslegen.”

Gähnend zum Orgasmus

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Bei sexueller Stimulation und beim Gähnen seien ähnliche biochemische Botenstoffe beteiligt, meint Seuntjens, etwa Dopamin oder das Bindungshormon Oxytocin. “Es gibt außerdem klinische Berichte, in denen als gemeinsame Nebenwirkungen von Medikamenten Gähnen und sexuelle Erregung erwähnt werden”, sagt Seuntjens.

Das komme bei einigen Arzneimitteln vor: “Eine Frau berichtete sogar, dass sie unter Einfluss eines Antidepressivums durch absichtliches Gähnen Orgasmen bekommen konnte.”

Bislang ist die erotische Dimension des Gähnens jedoch eher ein Kuriosum. Ebenso wie die Annahme, dass Stress ein Gähn-Auslöser sei. “Es gibt dieses Phänomen, dass man gähnt, wenn man etwas tun möchte, aber nicht kann”, sagt Seuntjens. “Zum Beispiel als müder Gastgeber, der ins Bett möchte, aber seine Gäste nicht rausschmeißen mag. Oder wenn man etwas tun muss, aber nicht tun will.”

Viele Fallschirmspringer neigen demnach vor ihrem ersten Sprung dazu, herzhaft zu gähnen. Das könnte mit dem großen inneren Druck zu tun haben. Denn Gähnen fördere die Spannungsentladung im Körper.

“Es stimmt, dass Gähnen gut tut”, sagt Neurologe Guggisberg. “Es ist gefolgt von einem Gefühl der Erleichterung.” Unklar bleibe aber, ob die entspannende Wirkung muskulär oder psychisch sei.

Gähnende Föten

Trotz aller offenen Fragen steht fest: Gähnen ist ein angeborener Mechanismus, ähnlich wie Blinzeln oder Niesen. Selbst Föten gähnen schon, wie Forscher um Nadja Reissland von der englischen Universität Durham kürzlich belegten.

Das Team untersuchte acht Mädchen und sieben Jungen im Mutterleib. Sie filmten die Föten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien für jeweils etwa 20 Minuten. Als Gähner zählte, wenn das Öffnen des Mundes eindeutig länger dauerte als das Schließen. Durchschnittlich war bei fast jeder Filmaufnahme ein Gähnen dabei.

Diese vorgeburtliche Beobachtung macht die Frage nach der physiologischen Funktion des Gähnens noch spannender. Eine Antwort glaubt Andrew Gallup von der Binghamton University im US-Staat New York gefunden zu haben.

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Seine These: Gähnen dient dem Wärmeaustausch des Gehirns, genauer: der Kühlung. In einer ersten Studie ermittelte der Psychologe, dass Gähnen bei Menschen dann besonders ansteckend ist, wenn sie einen warmen Gegenstand an die Stirn halten. Wird die Stirn dagegen gekühlt, lassen sich Menschen seltener zum Mitgähnen bewegen.

Gähnen zur Kühlung des Gehirns

In einer Folgestudie ermittelte Gallup mit einem Kollegen die Gähn-Ansteckungsrate von 160 Menschen – unterschieden nach Sommer und Winter. Im Winter gähnten die Teilnehmer des Versuches häufiger.

War die Außenluft dagegen wärmer als der Körper, rissen sie seltener den Mund auf. Weshalb? Wegen der Wärme, vermuten die Forscher. Der Nutzen des Gähnens hänge auch von der Temperatur der Außenluft ab, schreiben sie.

In Forscherkreisen lösten ihre Studien Diskussionen und Skepsis aus. “Die Daten sind indirekte Beobachtungen, die noch keine konklusiven Antworten geben auf die Mechanismen des Gähnens”, sagt Guggisberg.

Einen endgültigen physiologischen Grund lieferten die Untersuchungen nicht. “Bisher konnte kein solcher Zusammenhang des Gähnens wirklich gezeigt werden.”

Gähnen dient der Kommunikation

Der Neurologe vermutet, dass das Gähnen hauptsächlich der Kommunikation dient. Es funktioniert über Kulturkreise hinweg – in Europa, Amerika, Asien und Afrika gähnen Menschen gleichermaßen mit Nahestehenden.

“Das Signal, das Gähnen aussendet, wird immer erkannt”, bestätigt Guggisberg. “Das merken wir sofort und intuitiv.”

Ist Gähnen ansteckend Sympathie?

Forscher der italienischen Universität Pisa haben belegt, dass die emotionale Nähe zu einem Menschen entscheidend für die unbewusste Nachahmung ist. Am häufigsten sei Gähnen deshalb in der Familie ansteckend, danach unter Freunden, dann unter Bekannten – und ganz zum Schluss erst unter Fremden.

Wann ist Gähnen ansteckend?

Dass Gähnen ansteckend ist, ist auf Spiegelneurone in unserem Gehirn zurück zu führen. Diese sorgen dafür, dass wir weinen, wenn jemand weint, dass wir lachen, wenn jemand lacht und dass wir Mitleid empfinden. Wenn wir uns gut in andere Menschen hineinversetzen können, sind wir tendenziell anfälliger für das Mitgähnen.

Ist Gähnen ein Zeichen von Sympathie?

Ein einfacher Sympathie-Test: Gähnen Sie! Wer innerhalb von fünf Minuten ebenfalls gähnt, ist Ihnen vielleicht am meisten gewogen. Synchron-Gähnen: Bei den Verwandten ist die Ansteckung zum Gähnen am größten.

Für wen ist Gähnen nicht ansteckend?

Diesen Effekt nennt man empathisches Gähnen und ist bei allen Säugetieren zu finden. Texanische Forscher haben nun herausgefunden, dass Psychopathen dem Drang mit seinen Mitmenschen gemeinsam zu gähnen am ehesten widerstehen können, berichtet die „Daily Mail“.