Wer hat auf der Reeperbahn nachts um halb eins?

Auf der Reeperbahn

Mittwoch, 0:30, Ritze

Es sind fast nur noch Männer da, und natürlich reden sie über Fußball. Eines der zahllosen Promi-Fotos an der Wand gibt Rätsel auf. "Wer ist der Vierte?", fragt ein Herr mit rotem Hemd und grauem Schnurrbart und deutet auf ein Bild, das mit "Die 4 Großen des deutschen Fußballs!!!" betitelt ist. Eindeutig sind die Kicker-Legenden Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Helmut Schön zu erkennen. Doch vorne rechts steht jemand mit gepunkteter Krawatte und schelmischem Grinsen, den keiner erkennt.

"Horst Blankenburg", sagt die Kellnerin schließlich. Der hat mal beim HSV gespielt, war aber kein Nationalspieler wie die anderen. Dafür hat er als Einziger das Foto unterschrieben - mit dem handschriftlichen Satz, der ihn als einer der ganz Großen des Fußballs ausgibt. In St. Pauli liebt man solche charmanten Hochstapler, zur Rotlicht-Welt der Illusionen und großen Verheißungen gehören die einfach dazu.

Auch die "Ritze" hat schon manchen auswärtigen Gast getäuscht mit ihren gemalten Frauenschenkeln neben dem Eingang und dem eigenartigen Namen: Doch Sexshows gibt es hier nicht, sondern bayerisches Bier vom Fass, einen nach Schweiß stinkenden Boxkeller und kiloweise Kiez-Nostalgie zwischen Bilderrahmen. Und, tatsächlich: jeden Abend den Song "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" aus den Lautsprechern.

Nachts um halb eins

Donnerstag, 0:30 Uhr, 20up-Bar

Über dem kegelbahnlangen Tresen glänzen Kupferblech-Wände, 20 Stockwerke tiefer leuchten die Reeperbahn und die Verladekräne des Hafens. Die weißen Säulen sind so sauber und makellos wie die Anzüge der Besucher. Wenn es so etwas wie das Gegenteil der "Ritze" gibt, dann ist es das 20up im Empire Riverside Hotel.

76 Höhenmeter entfernt, aber gefühlt viel weiter weg sind Seemannsromantik, Astra-Werbeschilder und Die-Beatles-waren-auch-schon-hier-Nostalgie der alten Kiez-Kaschemmen, diese Bar steht für das St. Pauli der Zukunft. Und für eine Modernisierung, die viele nicht haben wollen. Wütend protestieren Anwohner etwa gegen den geplanten Abriss der fernsehbekannten Esso-Tankstelle.

Sie ärgern sich auch über die Tanzenden Türme, ein Designer-Hochhaus in provokanter Lage direkt am Anfang der Reeperbahn, das im August eröffnet wird. Der Erfolg wird den Bauherren vermutlich recht geben, genau wie den 20up-Betreibern. "Ich bin stolz, dass viele Gäste Hamburger sind", sagt Barkeeper Norman Pohn und blickt aus einem Riesenfenster auf die Lichter der Nacht, auf die Touristenmeile Reeperbahn.

Ob du 'n Mädel hast

Samstag, 0:30 Uhr, Grüner Jäger

"Halb eins, das ist der interessanteste Moment des Abends", sagt Matze, Baseballkappe, Hornbrille, Künstlername DJ Dreck. "Da entscheiden die Leute: 'Bleiben wir oder gehen wir noch woanders hin?' Als DJ musst du dann auf den Punkt auflegen." Und, ganz wichtig: "Die Mädels müssen tanzen, die Jungs bewegen sich erst, wenn sie betrunken sind." Sein Kollege am Pult weiß das offenbar auch, er spielt "Mmmbop" von Hanson. Die Tanzfläche: voller Mädels. Es ist einer dieser Abende im Grünen Jäger, bei denen hippe Menschen unter 30 zu Chart-Hits der Neunziger zeigen, dass Ironie tanzbar ist. Wer ohne Ironie mitmacht, fällt auch nicht auf. Und nach ein paar Bier sind "Coco Jambo" und "Mr. Vain" sowieso nicht mehr peinlich, nach ein paar Bier wird mitgesungen.

Oder hast keins

Dienstag, 0:30 Uhr, Goldener Handschuh

"Alles Fotzen außer Mutti", ruft ein glatzköpfiger Gast mit Trainingshose, Bierbauch und einer Stimme, die nach 10.000 Zigaretten klingt. "Im Grunde hast du recht", bestätigt ein Besucher in Jeansjacke. Sie bestellen sich "Lecken", trinken auf Ex und schmeißen die leeren Likörfläschchen unter den Tisch.

Amüsierst du dich

Samstag, 0:30 Uhr, Queen Calavera

Im Queen Calavera geht es nicht um Mutti, sondern ums andere Elternteil: Aus den Boxen tönt "My Heart belongs to Daddy", gesungen von Marilyn Monroe. Dazu tänzelt eine mit weißen Federboas wedelnde Tänzerin über die 80 Zentimeter breite Minibühne.

Zum Playback bewegt sie die Lippen und schält sich Strumpfbänder und Handschuhe vom Leib. Marlene von Steenvag, eine der besten deutschen Burlesque-Tänzerinnen, ist in ihrem Element. Sie ist größere Bühnen gewohnt, kommt aber gern ins Calavera, weil "es hier so familiär zugeht", wie sie später erzählt.

Vielleicht kommt sie auch, weil der vor wenigen Jahren eröffnete Club ein modernes St. Pauli verkörpert, das seine Wurzeln nicht verleugnet. Ein St. Pauli, das nicht museal oder kauzig wirkt, aber dennoch diese gemütliche Verruchtheit ausstrahlt, die zum Kiez gehört wie das Matjesbrötchen zum Fischmarkt.

Denn das findet sich auf der Reeperbahn

Mittwoch, 0:30 Uhr, Reeperbahn

Ein Brite in gelben Shorts, Hosenträgern über dem Hemd und gelber Mütze mit Feder führt seine Junggesellenabschieds-Gruppe in den Baby Doll Club. Ein Mann mit rotem Sikh-Turban und Vollbart betrachtet im Schaufenster des Sexy Devil einen Vibrator für 74,99 Euro. Zwei Japaner im Anzug lassen sich von einem Koberer mit "Sexshow! Entry is free!" und einer international verständlichen obszönen Handbewegung ins Moulin Rouge locken.

Auf der anderen Straßenseite, am Hans-Albers-Platz, haken sich Mädchen bei männlichen Passanten unter. Was denn dagegen spreche, mal für 'ne halbe Stunde mitzukommen? Ihre Zunft steht nicht in dem Ruf, um schlagfertige Worte verlegen zu sein, doch einmal stockt das Gespräch mit einer Dame in rosa Jacke: "Wo kommst du her? Aus Hamburg? Was machst du dann auf der Reeperbahn?"

Nachts um halb eins

Samstag, 0:30, Olivias Show Club

Travestie-Künstlerin Olivia Jones sitzt in einem Strandkorb vor ihrer neuesten Bar und philosophiert über die Zeit. "Zwischen zwölf und halb eins werden die Uhren umgestellt auf Alarm, dann fängt St. Pauli an zu leben", sagt die Zwei-Meter-Riesin. Sie muss es wissen, betreibt sie doch zwei Bars und einen Menstrip-Laden in der Partystraße Große Freiheit.

Jones trägt eine glitzernde Paillettenjacke, auf der ihr Name steht. Völlig unnötig - nachts kann sie sich nicht auf dem Kiez bewegen, ohne alle fünf Meter mit "Oliviaaa!", Liebesbekundungen und Kinderwünschen gegrüßt zu werden. "Um halb eins werden die Leute langsam wild - das war zur Zeit von Hans Albers so, aber es stimmt noch immer", sagt sie.

Wer weiß: Vielleicht war sein fröhlicher Reeperbahn-Schunkelsong gar keine Ode an das Rotlichtviertel, sondern eine Ode an die Uhrzeit. An die Uhrzeit, zu der sich entscheidet, ob es ein guter Abend wird in Hamburg.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Mehr zum Thema lesen Sie im ADAC-Reisemagazin "Hamburg"

Wer hat auf der Reeperbahn nachts um halb eins gesungen?

Hans AlbersAuf der Reeperbahn nachts um halb eins / Künstlernull

Ist Hans Albers zur See gefahren?

Hans Albers ist nie zur See gefahren, er trug fast zehn Zentimeter hohe Plateausohlen, und seine Halbglatze verbarg der "blonde Hans" unter einem Toupet. Am Samstag jährt sich sein Todestag zum 50. Mal. Den größten Teil seines Lebens hat er auch nicht an der Elbe, sondern in Berlin und am Starnberger See gebracht.

Wie alt ist das Lied auf der Reeperbahn?

Auf der Reeperbahn nachts um halb eins ist ein Walzerlied, das von Ralph Arthur Roberts 1912 für die von ihm selbst inszenierte Revue Bunt ist die Welt komponiert und getextet wurde. Der Text handelt vom Nachtleben auf der Reeperbahn im Hamburger Stadtteil St. Pauli.

Was hat Hans Albers gesungen?

«Komm' auf die Schaukel, Luise», «Auf der Reeperbahn nachts um halb eins», «Einmal noch nach Bombay», «Ganz dahinten, wo der Leuchtturm steht» und vor allem sein «La Paloma», um nur einige zu nennen, waren Schlagerhits seiner Zeit.