Ich bringe mich gleich um

In Freiburg beantworten junge Erwachsene Mails von Jugendlichen mit SuizidgedankenMorgen bringe ich mich um

Aktualisiert am 03.09.2014  –  Lesedauer: 

Ich bringe mich gleich um

Bild: © picture alliance/Dries Luyten

Soziales

Freiburg ‐ Lisa sitzt vor dem Computer. Sie schreibt eine Nachricht. Deren Empfänger kennt sie nicht. Er benutzt einen Fantasienamen. Auch seine E-Mail-Adresse oder sein Wohnort sind ihr unbekannt. Lisa weiß nur eines: der Empfänger ihrer Nachricht sucht Hilfe. Gewalt, Missbrauch, Mobbing oder Liebeskummer sind Themen.

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Vor allem aber selbstverletzendes Verhalten, Überforderung und das Gefühl, den Lebenssinn verloren zu haben. "Manchmal bekomme ich Mails mit nur einem Satz: mir geht es schlecht", erzählt die 20-Jährige, "manchmal drei Seiten Text." Und manchmal eine konkrete Ankündigung: Morgen bringe ich mich um.

In Deutschland setzen etwa 10.000 Menschen jährlich ihrem Leben ein Ende, so die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Aids zusammen. "Ein großer Anteil der suizidgefährdeten Menschen sind Jugendliche und junge Erwachsene", weiß Solveig Rebholz, Diplom-Sozialarbeiterin beim Arbeitskreis Leben (AKL) in Freiburg. Eine Beratungsstelle für Menschen in Lebenskrisen und bei Selbsttötungsgefahr, an deren Trägerverein sieben katholische Verbände beteiligt sind.

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Bild: ©Vanessa Renner

Teambesprechung beim Projekt [U 25]: Franziska, Solveig Rebholz, Lisa.

Die Erfahrung von Beratern und Therapeuten zeigt, dass suizidgefährdete Jugendliche nur selten zu ihnen kommen. "Die Hemmschwelle ist zu hoch", vermutet Solveig Rebholz. Sie leitet beim Arbeitskreis Leben das Projekt [U 25], das genau an diesem Problem ansetzt. [U 25] geht auf Jugendliche zu und sucht sie an ihrem Kommunikationsort auf: im Internet. Die Anonymität – das Projekt arbeitet über ein verschlüsseltes Beratungstool der Caritas – erleichtert vielen, sich zu öffnen. "Darüber hinaus arbeiten wir bewusst mit jungen Peerberatern, um eine weitere Hürde zu nehmen", erklärt Solveig Rebholz. Das bedeutet: Alltagsbegleitung auf Augenhöhe.

hey, hallo oder liebe - welche Anrede ist die richtige?

Lisa ist eine der rund 50 ehrenamtlichen Peerberaterinnen in Freiburg. Auf ihre Aufgabe wurde sie vom AKL gemeinsam mit neun weiteren Teilnehmern in einer sechsmonatigen Ausbildung vorbereitet. "Das hat Spaß gemacht", sagt die blonde 20-Jährige, "allerdings", und dabei lächelt sie, "sind die Leute oft irritiert, wenn ich das sage." Doch seien an der einen oder anderen Stelle auch Tränen geflossen, fügt sie hinzu. "Krise und Suizid sind natürlich Themen, die einem nahe gehen."

Peerberaterin Lisa über ihre Arbeit beim Projekt [U 25]

Für viele bedeute die Ausbildung auch eine Auseinandersetzung mit sich und dem eigenen Leben. Während der sechs Monate beschäftigen sich die zukünftigen Beraterinnen mit psychischen Erkrankungen, Grundlagen der Krisenbegleitung und Schreibübungen. "Puh, als wir das erste Mal eine Übungsmail schreiben sollten, haben wir 20 Minuten über die Anrede diskutiert", erinnert sich die 25-jährige Franziska, "hey, hallo oder liebe? Jedes Wort haben wir auf die Goldwaage gelegt."

In der Email steht der Todeswunsch

Nach fünf Jahren als Peerberaterin weiß Franziska, dass sie auf ihr Gespür und ihre Grundeinstellung gegenüber Menschen in Krisen vertrauen kann. "Wenn jemand schreibt: ich will nicht mehr leben, versuche ich das nicht sofort wegzureden", erklärt Franziska, "so ein Wunsch ist nicht grundlos. Suizidale Menschen haben oft vieles durchgemacht." Für Diplom-Sozialarbeiterin Solveig Rebholz ist diese akzeptierende Haltung entscheidend. "Wir wollen Raum schaffen, um über Suizid zu sprechen und das Thema im Sinne der Prävention aus der Tabuzone holen."

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Bild: ©Vanessa Renner

Diplom-Sozialarbeiterin Solveig Rebholz an ihrem Schreibtisch.

Doch wie kann eine Antwort aussehen auf eine Mail, die einen Todeswunsch ausdrückt? "Natürlich ist das die Entscheidung des einzelnen Menschen. Ich dränge niemanden", sagt Franziska und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, "ich möchte aber Optionen aufzeigen und vor allem vermitteln, dass ich da bin und weiter Mails schreiben werde."

Als hoffnungslos empfindet die erfahrene Peerberaterin eine solche Mail nicht. "Wenn mir jemand schreibt, besteht doch Grund zum Optimismus." Das kann Solveig Rebholz bestätigen: "Viele suizidale Menschen wollen nicht sterben, sondern ein anderes Leben führen. Wir beschäftigen uns in erster Linie nicht mit dem Tod, sondern damit, wie Menschen ihr Leben gestalten wollen und können." Dies empfinde sie als sehr lebendige Aufgabe, so die Diplom-Sozialarbeiterin.

Man kennt die Gedanken und Gefühle des anderen

Es ist eine unaufgeregte, positive Haltung, die die Stimmung in den hellen, freundlichen Räumen im Dachgeschoss der Beratungsstelle ausmacht. Aus dieser Grundhaltung heraus begegnen die Peerberater ihren Mailpartnern und begleiten sie über einen Zeitraum hinweg – im Durchschnitt sechs Monate. "Es geht darum, sich gegenseitig kennenzulernen, zuzuhören und eine verlässliche Bindung aufzubauen", so Lisa.

Peerberaterin Franziska über ihre Arbeit beim Projekt [U 25]

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Menschen vor einem Suizidversuch alle Kontakte zu Personen in ihrem Umfeld abbrechen. "Wir versuchen, über die regelmäßigen Mails eine stabile Beziehung aufzubauen", formuliert Solveig Rebholz das Anliegen des Projektes. Manchmal sei der anonyme Mailpartner die einzige Verbindung, die noch bestehe. "Aber anonym ist nicht fremd", findet Lisa, "im Gegenteil: man kennt die Gedanken und Gefühle des anderen." Das sei nicht immer leicht, ergänzt Franziska. Zum Beispiel wenn ein Klient den Kontakt unvermittelt abbreche oder seinen Account lösche. "Dann bleibt oft ein großes Fragezeichen", so die Erfahrung der 25-Jährigen. Das müsse man aushalten können.

"Hier bin ich wieder, ich lebe noch"

In solchen Situationen helfen die Treffen, zu denen die Peerberater und ihre Koordinatorin regelmäßig zusammenkommen. "Das fängt unglaublich viel auf", weiß Lisa aus eigener Erfahrung. Ebenso wie die Rückmeldungen in den Mails der Klienten. "Die berühren mich sehr", sagt Franziska und erzählt von einem Klienten, der seinen Account gelöscht hatte. "Nach einem halben Jahr meldete er sich mit den Worten: hier bin ich wieder, ich lebe noch", erzählt die Peerberaterin und lacht herzlich, "das war einfach schön."

Ihr Blick auf die Welt habe sich durch ihre Arbeit verändert, sagt Solveig Rebholz. Nicht nur zum Positiven: "Bei Klienten, die Opfer von Gewalt wurden, ist für mich nur schwer zu ertragen, was Menschen anderen Menschen antun können." Sie hält kurz inne, blickt aus dem Fenster. Dennoch: sie bleibe optimistisch. Eine Klientin habe das einmal so ausgedrückt: "Sich dem Leben in die offenen Arme werfen. Trotz allem. Immer wieder."