Wer hat seine töchter alle gleich genannt

Eine Stunde vor dem Auftritt. Das Hamburger St.-Pauli-Theater ist ausverkauft. Noch sitzt Volker Lechtenbrink ganz entspannt in seiner Garderobe. Die Haare des 70-Jährigen sind immer noch blond, die Augen wach, die Gesten kraftvoll. Und die Stimme hat das weiche, warme Timbre, mit dem er schon viele Hörbuchpreise abgeräumt hat. Gleich wird er in Florian Zellers Stück „Der Vater“ eine schwere Rolle spielen: einen dementen Mann. Mit diesem Stück wird Lechtenbrink auch bald bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gastieren.

Welt am Sonntag:

Das Stück erzählt die Geschichte eines Mannes, dem die Welt verschwimmt. Sie sind dieser André, und wir erleben alles aus seiner Perspektive. Wie fühlt sich das beim Spielen an?

Volker Lechtenbrink:

Das ist einfach der Glücksfall eines Theaterstücks, es ist unglaublich schlüssig geschrieben.

Der Autor Florian Zeller ist der Shooting-Star der Pariser Theater, seine Stücke laufen vor ausverkauften Häusern. Bisher hat er vor allem Komödien geschrieben. Hat „Der Vater“ auch witzige Seiten?

Er nennt es eine tragische Farce. So ist ja noch nie ein Stück genannt worden. Das Stück ist sehr tragisch als auch in Momenten sehr komisch. Demente sind ja nicht alle gleich, soweit ich das beurteilen kann. Und ich kann’s ganz gut beurteilen, weil meine Mutter dement war und vier Jahre in einem betreuten Wohnen gelebt hat. Da habe ich viele Stadien erlebt. Demente sind ja zum Teil sehr komisch, in ihrer Logik. Es gibt ganz verschiedene Typen. Den aggressiven Dementen, den weinerlichen Dementen, den ordinären, aber auch den verführerischen Dementen. Alles in einer Person, das kann von einem Moment auf den anderen umschlagen.

Szene aus der Aufführung: Eine neue Krankenschwester kommt. Sie soll André (gespielt von Lechtenbrink) betreuen, nähert sich ihm behutsam, fragt, was er beruflich gemacht hat. Er überlegt und antwortet dann: „Ich war Tänzer.“ Seine Tochter, die ebenfalls im Raum ist, reagiert irritiert, André war Ingenieur. Der Vater ignoriert ihre Einwände, er lächelt, breitet die Arme aus, als wolle er abheben, und sagt: „Schwerpunkt Steppen“. Ein leichter, charmanter Moment, die Zuschauer schmunzeln, lachen. André strahlt. Vielleicht ahnt er, dass er kein Tänzer war. Aber in diesem Augenblick fühlt er sich so. Also ist es die Wahrheit.

Bekommen Sie als André oft Angst?

Ja, wenn er selber spürt, dass mit ihm was nicht in Ordnung ist. Er sagt dann auch, irgend etwas stimmt hier nicht. Er kann nicht erklären, was nicht stimmt. Er merkt nur, es stimmt etwas mit ihm nicht, es stimmt etwas mit seiner Umgebung nicht. Er kriegt es nicht auf die Reihe. Plötzlich sind für ihn seine Tochter und ihr Partner völlig andere Personen.

Die Tochter Anne und ihr Lebensgefährte Pierre sind in dieser Inszenierung doppelt besetzt. Plötzlich kommt eine andere Frau auf die Bühne und behauptet, sie sei Anne. Ein Schock. Man fühlt sich wie in einem Psychothriller. Als ob unbekannte Mächte versuchen würden, auch das Gehirn des Betrachters zu manipulieren. André wird gezwungen, die fremde Frau als seine Tochter anzuerkennen. Weil sie darauf besteht und er von ihr abhängig ist. Auch die Wohnung verändert sich. Mal verschieben sich die hellen Wände des Bühnenbilds, mal verschwinden Möbel und Gegenstände. In welchem Raum befindet sich André gerade? Ist das noch seine Wohnung? Oder schon die seiner Tochter?

Als Zuschauer wird man in die Verwirrung des André hineingezogen.

Für ihn ist es das, was in diesem Moment in seinem Innenleben passiert. Ob das demente Menschen hundertprozentig so empfinden, können weder Florian Zeller noch ich sagen. Aber es könnte so sein. Manche Zuschauer haben uns schon erzählt, genau so sei es gewesen beim Vater oder beim Schwager.

Für Sie als Schauspieler muss das eine große Herausforderung sein. Sie müssen sehr exakt spielen, damit genau diese Wirkung entsteht. Gleichzeitig geht es ja darum, dass André die Kontrolle verliert. Gibt es da eine bestimmte Technik?

Mit Technik kann man da nicht viel machen. Das hat mit Gefühl zu tun, mit den Erfahrungen, die man gesammelt hat. Es war schrecklich, den Text zu lernen. Weil André ja nie logisch antwortet. Jemand sagt, es ist schönes Wetter. Und er antwortet: Wer hat den Sessel da hingestellt? Er bricht Sätze ab oder springt mitten im Satz auf ein anderes Thema. Eine Kollegin hat gesagt: Wenn du den Text gelernt hast, kannst du sicher sein, dass du noch nicht dement bist.

Wie fühlen Sie sich denn am Ende?

Ich hab’ ja schon ziemliche Kaliber gespielt, von Shakespeares „König Lear“ bis zum „Hauptmann von Köpenick“. Aber diese Rolle höhlt einen emotional so aus. Ich gehe wirklich von der Bühne und bin fertig für den Abend. Da ist nix mehr mit „Wir geh’n jetzt schön ein Bier trinken.“ Kollegen, die sich die Aufführung anschauen, wollen sich ja hinterher immer noch mit einem treffen. Dann sag’ ich: Wir treffen uns überhaupt nicht. Ich geh’ nach Hause und atme aus und versuche, langsam wieder auf null zu kommen. Es haut einen einfach weg. Diese Art von Emotionen berühren einen selber auch. Da muss ich ganz tief in der Kiste graben. Aber das ist natürlich auch großartig.

Am Anfang der Aufführung sind einige Zuschauer skeptisch. Eine Frau fragt: „Wer ist denn das noch mal, der Lechtenbrink?“ Darauf ihr Begleiter: „Der hat mal Chansons gesungen. Deswegen wollte lange kein bedeutender Regisseur mit ihm arbeiten.“ Die Dame schaut, als habe sie in einen faulen Apfel gebissen. Der Mann neben ihr beruhigt sie: „Aber der war mal richtig gut.“ Während der 100 Minuten dauernden Aufführung blicken die beiden mit voller Konzentration auf die Bühne. Zu Beginn zeigt Volker Lechtenbrink, wie André seine Erinnerungslücken zu überspielen versucht. Ein liebenswerter, immer noch attraktiver älterer Herr, der ein bisschen tüddelig geworden ist. Doch dann klappt das nicht mehr. Er wird immer verwirrter, misstrauischer, aggressiver. Bis er sich verhält wie ein Mensch, der ums Überleben kämpft. Demenz ist Sterben auf Raten. Was das heißt, erleben wir in Ulrich Wallers packender Inszenierung. Am Ende ruft André nach seiner Mama und lässt sich von einer Krankenschwester in den Schlaf singen. Vielen Zuschauern stehen die Tränen in den Augen. Dann bricht heftiger Applaus los. Volker Lechtenbrink verneigt sich, bringt gerade so ein Lächeln zustande. Und sieht wirklich fertig aus.

Bei den Ruhrfestspielen läuft „Der Vater“ im Rahmen eines Frankreich-Schwerpunkts. Neben Klassikern von Labiche und Molière und einem neuen Stück von Yasmina Reza. Florian Zeller gilt als einer der bedeutendsten Dramatiker der jüngeren Generation. Gibt es etwas typisch Französisches an seinem Stück?

Die Leichtigkeit – trotz dieses schweren Themas. Das können die Franzosen ja sehr gut. Auch im Film bringen sie dich in einer Sekunde zum Weinen und in der nächsten Sekunde geht die Sonne wieder auf. Es ist scheinbar leicht, aber es ist nicht wirklich leicht. Sondern es wird mit einer leichteren Fassbarkeit serviert. Man kann es nachempfinden. Und dann hat es so eine Eleganz. Es ist ein Meisterwerk, das Florian Zeller da geschrieben hat.

Kann das deutsche Theater von den Franzosen etwas lernen?

Viele deutsche Schauspieler sind in sich zu schwer, um mit dieser Leichtigkeit etwas anfangen zu können. Die Franzosen haben ja auch nie – wie übrigens auch nicht die Amerikaner – unterschieden zwischen Unterhaltung und ernster Kunst. In Frankreich spielen Schauspieler klassische Stücke und Boulevard. Weil gute Schauspieler beides können. Es hängt doch von der Qualität des Stückes ab.

Aufführungen: 25., 26., 27. Mai im kleinen Festspielhaus Recklinghausen, Karten-Tel.: 0 23 61 / 92 18-0 www.ruhrfestspiele.de