Mit dem fahrrad durch deutschland von süd nach nord

Tief hängen die Wolken über den sattgrünen Allgäuer Hochalpen. Eine Gewitterformation rückt über das mächtige Gebirgsmassiv heran. Auch das ist ein Grund, warum das Haldenwanger Eck, 17 Kilometer südwestlich von Oberstdorf gelegen, an diesem Nachmittag noch menschenleerer ist als sonst. Neben dem Rauschen des Windes ist nur Vogelgezwitscher und das Läuten der Kuhglocken zu hören.

Und dann, nach einer letzten, mit Felsbrocken gespickten Anhöhe, ist er erreicht, der auf 1883 Meter Höhe gelegene Grenzstein 147 zwischen Bayern und Österreich. Hier, an der südlichsten Stelle Deutschlands und am Endpunkt einer 1600 Kilometer langen Tour durch unser Land, von der nur die ersten zwei und letzten zwölf Kilometer nicht per Pedale, sondern per pedes bewältigt wurden, ist der Reisende allein mit sich und der Natur – wie so oft auf den vorangegangen 20 Etappen.

Drei Wochen zuvor auf Sylt, auf Höhe Normalnull und mehr als 12.000 Höhenmeter noch vor der Brust, beginnt auf dem Ellenbogen, einer Landzunge oberhalb von List, die Reise. Markiert von einem unscheinbaren Schild, befindet sich zwischen Dünen und Meer der nördlichste Zipfel der Bundesrepublik.

Radtour durch Deutschland

Quelle: Infografik WELT

Sand, Sonne, Seemöwen, das Rauschen der Wellen, und sonst nur ein junges Paar, das kurz für ein Foto posiert und wieder weg ist. Ein aus Strandgut gebautes vogelscheuchengleiches Wesen ist der einzige dauerhafte Bewohner dieses Inselzipfels.

Eine Radtour ist Balsam gegen die Reizüberflutung

Die Einsamkeit und Weite der Landschaft ist eine wiederkehrende Erfahrung, die der Reisende am Meer und in den Bergen macht, sobald er sich in den Sattel schwingt. Es ist kaum zu glauben, dass ein mit 83 Millionen Bewohnern relativ dicht besiedeltes Land wie Deutschland so viele idyllische Ecken hat, in denen kaum eine Menschenseele unterwegs ist.

Wer kennt nicht die Reizüberflutung im Alltag, die Sehnsucht, anstatt des Kopfes mal wieder den Körper richtig zu nutzen? Da ist Fortbewegung aus eigener Kraft in frischer Luft das beste Mittel. Und klimafreundlich ist diese Reiseform noch dazu.

Dabei bietet das Fahrrad gegenüber den Füßen den Vorteil der größeren Reichweite, sodass ein halbwegs fitter Mensch das ganze Land durchqueren kann, ohne dafür gleich ein Sabbatical zu benötigen. Sobald ein Tretrhythmus gefunden ist, der Wind die Nase umspielt und sich der Blick gen Horizont richtet, setzt ein entschleunigter, fast meditativer Zustand ein: Ich radle, also bin ich.

Dabei spielt es keine Rolle, welche Route man von Nord nach Süd, West nach Ost oder umgekehrt wählt. Der Weg ist das Ziel, das gilt besonders auf einer solchen Tour.

Unberührte Natur und Kulturschätze entlang der Route

Zunächst ist es die Vielfalt der deutschen Naturlandschaften, die fasziniert, wenn man sie „erfährt“. Das fängt an in den Dünen und an den roten Kliffs auf Sylt.

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Im flachen Nordfriesland reiht sich ein endloses Kornfeld ans andere. Von der Sonne golden gefärbt, wiegen sich die Halme wie Wellen im Wind. Die Wesermarsch beeindruckt mit sanften Schilfauen und Sandbänken.

In der Berg- und Tallandschaft des Sauerlandes erfreut sich der Radfahrer an naturbelassenen Mischwäldern und verweilt an Bachläufen wie aus dem Tourismuskatalog. Und wer im Rheingau einen Sonnenuntergang inmitten von Weinbergen ganz für sich erlebt, weiß, was wirkliche Schönheit ist.

Radtour durch Deutschland: Menschenleere Hügellandschaft im Rheingau zum Sonnenuntergang

Menschenleere Hügellandschaft im Rheingau zum Sonnenuntergang

Quelle: Nikos Späth

So geht es weiter – vorbei an markanten Felsformationen in der Schwäbischen Alb, azurblauen Seen im bayerischen Voralpenland und durch saftige Weiden im Allgäu, die man sich allein mit dem kräftigen Braunvieh teilt.

Auf dem Weg liegen, ganz gleich, welche Route gewählt wird, unzählige Kulturschätze, die der Reisende nicht links liegen lassen sollte. Ob die Altstädte von Münster und Heidelberg, der Wormser Dom, der Englische Garten in München oder das unvermeidliche Schloss Neuschwanstein des Märchenkönigs Ludwig II. – all das erfreut die Augen.

Aber selten üben touristische, normalerweise überlaufene Hotspots die gleiche Faszination aus wie Orte und Erlebnisse, die auf Instagram oder Tripadvisor keine Rolle spielen: ein Feld aus Millionen Sonnenblumen, in dessen Hintergrund sich Windräder vor einem surreal gefärbten purpurnen Himmel drehen; ein Nachtspaziergang unter Linden, deren Blüten die Luft schwängern; oder der heiß ersehnte Sprung von einer Brücke ins kühle Nass eines Flusskanals irgendwo in der Provinz.

Herzliche Begegnungen quer durch Deutschland

Dass links und rechts der Verkehrstrassen viel Schönes wartet, an dem man im Auto stets vorbeigeprescht ist, hat man geahnt. Aber was wirklich überrascht, unterwegs in Deutschland, sind die vielen herzerwärmenden Begegnungen.

Vielleicht sind es besondere Sympathien, die einem entgegenfliegen, wenn man auf Durchreise ist? Mitmenschen sehen die Fahrradtaschen und schon entspinnt sich ein Gespräch über Gott und die Welt: „Woher kommen Sie?“ – „Wohin fahren Sie heute noch?“ – „Was ist das Ziel und der Sinn Ihrer Tour?“

Vielleicht liegt es aber auch an einem selbst? Man nimmt sich bewusst Zeit für sein Gegenüber – ganz anders als im eng getakteten Alltag, den man selbst meist mit Scheuklappen durchlebt. Und womöglich hat man auch ein zu negativ gefärbtes Bild einer erregten Gesellschaft vor Augen, das in Wahrheit nur von einer lauten, im Horizont beschränkten Minderheit bestimmt wird.

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Eine Fahrt durch Deutschland jedenfalls vermittelt etwas völlig Gegenteiliges. Wer ein Privatzimmer als Unterkunft bucht, ist jedes Mal erstaunt, mit welchem Vertrauensvorschuss Menschen ihre Türen und Herzen öffnen.

Abends auf ein Bier oder morgens bei einer Tasse Kaffee hört man von Beziehungskrisen, Selbstheilung, Sinnsuche und verrückten Lebensmodellen, reist in den Geschichten der Gastgeber in ferne Länder und lässt sie an eigenen Gedanken und Plänen teilhaben. Der Reisende hat Zeit und Raum für solche Begegnungen – und gerade der Fakt, dass man sich so schnell nicht wiedersieht, schafft Nähe.

Vom Krieg auf der Straße keine Spur

Dazu trifft man auf große Hilfsbereitschaft. Regina aus Menden im Sauerland etwa ist sich nicht zu schade, sonnabends kurz vor Mitternacht eine Waschmaschine mit verschwitzten Fahrradklamotten anzuschmeißen. Die Münsteraner Studenten Yannick und Käthe bauen flugs ein Zelt mitsamt Komfortmatratze im Garten auf, weil der Gast die Buchungsdaten durcheinandergebracht hat und nun alle Betten belegt sind.

Gleiches widerfährt dem Radreisenden unterwegs: Da ist der Schrauber einer Heidelberger Fahrradwerkstatt, der trotz hoffnungslos überfülltem Laden bereit ist, kurzerhand ein Kugellager zu reparieren. Da sind die Passanten, die bei der Orientierung in der Stadt helfen wollen, sobald man kurz anhält, und die Radler, die ungefragt stoppen und Hilfe bei der Reparatur eines Plattfußes anbieten.

Bezeichnend ist auch, dass während mehr als 100 Stunden im Sattel nur zwei Autofahrer das langsame Zweirad vor ihnen per Hupe auffordern, Platz zu machen. Vom viel zitierten Krieg auf der Straße keine Spur.

Der Urlaub mit dem Fahrrad wird fast zur Pilgerreise

Nach mehr als 1600 Kilometern durch Deutschland sind es zwei Begegnungen, die in besonderer Erinnerung bleiben und der Urlaubsreise etwas von einer Pilgerfahrt geben.

In Plüderhausen an der Rems, zwischen Waiblingen und Schwäbisch Gmünd, hält der hungrige Radler an einem Imbisswagen. 3,50 Euro kostet hier das Landmetzgersteak im Brötchen. Und weil gerade nicht viel los ist, hat Chefin Julia Zeit für einen Plausch.

Mit ihrer Mutter sei sie immer gern an die Küste gefahren, sagt sie. Die Norddeutschen seien so offen, ganz anders als die Schwaben. Nun, das ist wohl Ansichtssache; Julia zumindest ist die Herzlichkeit in Person.

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„Darf ich Ihnen was mit auf den Weg geben?“, fragt sie, greift ins Wandschränkchen über der Spüle und drückt dem Reisenden einen blumenverzierten Zettel mit einem Bibelspruch in die Hand.

Vers 9,10 Prediger: „Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu“, steht dort geschrieben. Ein Motto, das für die verbleibenden Kilometer besser nicht passen könnte, und eine Geste, die rührt.

Ein Pick-up nimmt Wanderer und Fahrrad mit

Julias Zettel reist im Portemonnaie mit, bis fünf Tage später – aus eigener Kraft – der granitgraue Grenzstein mit der Nummer 147 erreicht ist. Für ein Happy End braucht es dann aber höhere Mächte, und die treten in Form des Dorfjägers Bernhard in Erscheinung.

Als sich hinterm Haldenwanger Eck das plötzlich aufziehende Gewitter donnergrollend entfaltet, fährt Bernhard mit seinem Pick-up durchs menschenleere Tal. „Komm, steig ein. Das wird heftig“, ruft er, nimmt den Wandernden mit und bald auch dessen weiter unten an einer Alm abgestelltes Fahrrad.

Während riesige Regentropfen gegen die Frontscheibe prasseln, unterhalten sich Einheimischer und Reisender über die Kraft der Natur und die Winzigkeit der Menschen in den Bergen. Im Gästehaus in Oberstdorf angekommen, ist das Ziel in doppelter Hinsicht erreicht – zwar nass, schmutzig und erschöpft, aber dankbar und erfüllt.

Radtourismus wird immer beliebter – dank E-Bikes

Der Radtourismus boomt. Ein Grund dafür sind E-Bikes. Denn mit ein bisschen Hilfe können auch weniger sportliche Radfreunde anspruchsvolle Touren mühelos bewältigen. Aber auch Umwelt- und Gesundheitsaspekte spielen eine Rolle.

Quelle: WELT / Alfa Conradt

Tipps für eine Radtour quer durch Deutschland:

Route: Es gibt nicht die eine Route durch Deutschland, sondern so viele, wie es Straßen gibt. Wer das ganze Land durchqueren möchte, muss früher oder später mindestens eines der Mittelgebirge überwinden. Mit Gepäck, und sofern man kein E-Bike fährt, ist das eine sportliche Herausforderung.

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Alternativ bieten sich Radfernwege wie der Elbe-, Mosel- oder Ostseeküstenradweg an, die überwiegend durch flaches Terrain führen.

Pauschalreiseangebote gibt es zum Beispiel beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC): radurlaub-online.de

Navigation: Ein Outdoor-Routenplaner wie Komoot ist praktisch, weil die App Wegtypen, Fahrbahnbeschaffenheit, Steigungsgrade und Höhenmeter anzeigt. Die Sprachansage beim Fahren ist klar und die Navigation bis auf wenige Meter genau.

Das Routenprofil sollte vor dem Start geprüft werden, denn zuweilen plant die App Steigungen von bis zu 20 Prozent ein. Wem das zu viel ist, der kann die Route durch Hinzufügen von Wegepunkten anpassen. Zwar bedeutet das meist Mehrkilometer, aber dafür weniger Plackerei am Berg.

Übernachtung: Nicht nur Metropolen, auch Städte wie Oldenburg, Münster, Osnabrück oder Heidelberg sind in der Saison gut gebucht. Daher rechtzeitig Unterkünfte reservieren. Das gilt auch für AirBnB-Privatzimmer und Jugendherbergen, die bei Radreisenden besonders beliebt sind.

Ausrüstung: Je weniger Gepäck, umso besser: Jedes Kilo in der Gepäckträgertasche macht sich bemerkbar. Ein Muss sind nahtfreie Sportunterwäsche, gepolsterte Radlerhosen, atmungsaktive Oberbekleidung, Regensachen und Fahrradschuhe.

Wechselschlauch, Multiwerkzeug und Luftpumpe sollte man immer dabeihaben. Hat man einen Platten, wenn möglich vor der nächsten Etappe einen neuen Reserveschlauch kaufen.

In jede Radlerapotheke gehören hoch dosiertes Magnesium für die Muskulatur und eine Wund- und Heilcreme wie Bepanthen.

Den richtigen Sattel für eine längere Tour findet man am besten im Fachgeschäft, das die Sitzknochen vermisst und den Sattel nach einer Testphase wieder zurücknimmt, sollte er unbequem sein.

Eine Powerbank hilft dabei, dass der Handyakku trotz Dauernavigation und GPS-Empfang nicht vor dem Etappenziel schlappmacht.

Essen & Trinken: Morgens ordentlich frühstücken und mittags kohlenhydratreiche Nahrung essen. Unterwegs geben Bananen, Studentenfutter, Müsliriegel und Traubenzucker schnell Energie.

Viel trinken: Bei Hitze und langen Etappen braucht der Körper schon mal sechs Liter Flüssigkeit. Mit zwei Trinkflaschen je 0,75 Liter kommt man da nicht weit, daher sollte man sie unterwegs rechtzeitig auffüllen.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

WELT AM SONNTAG vom 22. März 2020

Quelle: Welt am Sonntag

Wie lange mit dem Fahrrad durch Deutschland?

Wie lange braucht man mit dem Rad? Trainingszustand: normal – Fahrrad: City/Trekkingrad.

Wie lange dauert es von Deutschland nach China mit dem Fahrrad?

Von Deutschland nach China zu reisen dauert mit dem Flugzeug zehn Stunden – oder zehn Monate, wenn man das Fahrrad nimmt.

Wo ist Radfahren in Deutschland am schönsten?

1. Elberadweg – Strecke am Fluss bis zur Nordsee. Im vergangenen Jahr reichte es „nur“ für Platz zwei, 2021 liegt der Elberadweg wieder ganz vorne. Er führt – wie der Name schon sagt – am gleichnamigen Fluss Elbe entlang.

Wo kann man in Deutschland mit dem Fahrrad Urlaub machen?

Radreisen in Deutschland.
Schloss Neuschwanstein im Allgäu..
Reichstag, Berlin..
Heidelberg am Neckar..
Ostsee-Radweg..
Überlingen am Bodensee..
Brandenburger Tor, Berlin..
Wachenheim an der Weinstraße..
Dresden..